Diaabend 

Es gab eine Zeit, in der es noch keine Smartphones gab.
Menschen, die anderen etwas mitteilen wollten, mussten ein Blatt Papier oder eine Postkarte nehmen und mit der Hand zu schreiben anfangen. Wer ein Bild machen wollte, benötigte eine extra Kamera. Die Kamera konnte nur Bilder machen. Die Bilder konnten auch nicht gleich retuschiert und auf Instagram hochgeladen werden, weil es auch Instagram noch nicht gab.

In dieser Zeit kostete jedes Bild richtig viel Geld. Als erstes musste der Rollfilm und später die Entwicklung des Films und der Abzug der Bilder auf Papier bezahlt werden. Das war nicht billig. Es wollte gut überlegt sein, wofür so ein Bild verwendet wurde. Keiner kam auf die Idee einfach sein Mittagessen zu fotografieren, denn früher wusste jeder wie ein Mittagessen aussah.
Bilder wurden im Urlaub gemacht. Thomas war an der Costa Brava, Heike und Klaus auf Malle und die Familie Müller war auf Hawaii.

Sven war in Neuseeland und hatte Dias gemacht. „Das musst du uns unbedingt zeigen! Wir sind schon ganz neugierig!“ Es gibt Sätze, denen man ihre innere Dialektik nicht im ersten Moment anmerkt. Natürlich waren wir interessiert. Neuseeland liegt ja nicht vor der Haustür. Es ist zwar nicht lebenswichtig, zu wissen, wie es in Neuseeland aussieht, aber wollten wir da nicht schon immer mal hin? Die neuseeländische Kultur hat unser Abendland ungemein bereichert, zumindest vielleicht ein bisschen und man soll ja auch über den Tellerrand blicken. Wir waren, sagen wir, ein bißchen interessiert.

Endlich war es Samstagabend und um kurz nach 19 Uhr standen wir mit der Weinflasche bewaffnet vor Svens Haustür. „Kommt rein, die anderen sind schon da!“ Wir begrüßten die anderen, sahen, dass bereits Knabberzeug und alkoholische Getränke aufgebaut waren. Einem gemütlichen Samstagabend stand nichts mehr im Wege. Doch Dias zu schauen war damals nicht so einfach. Da es ja noch kein Smartphone gab, konnte man das Smartphone auch nicht mit dem Fernseher koppeln und die Bilder dort zeigen. Es bedurfte einer Leinwand und eines Diaprojektors, um dann auf 800 Dias in die Welt Neuseelands einzutauchen.

Der Aufbau der Gerätschaften war etwas mühsam. Svens Projektor war schon ausgepackt und die männlichen Gäste hatten sich sogleich auf die Technik gestürzt. Schnell wurde erkannt, dass der Wohnzimmertisch zu tief war, um das Bild unverzerrt auf die Leinwand zu richten. Wie gut, dass es damals noch Bücher gab und ein gut gefüllter Bücherschrank den Nachweis von Bildung darstellte. Sven, der später einmal sogar Professorr werden sollte, hatte mehr als einen Bücherschrank. Experimentell wurde nun ermittelt, wie viele Bücher unter den Projektor gelegt werden mussten, um ein akzeptables Bild zu kommen. Schließlich befand sich der Projektor auf einem medizinischen Gesundheitsbuch, der Bibel für Kinder, Isabella Allendes „Geisterhaus“ und bezeichnenderweise lag Günter Wallraffs „Ganz unten“ auch ganz unten.

„Hast Du noch ein Buch?“ Die Projektion des Lichtes sollte genau waagerecht auf die Leinwand treffen. Es wurde jetzt noch etwas Dünnes benötigt. Schließlich fanden sich
„30 leichte Gerichte zum Frühlingsanfang“ als Ergänzung des Turmes. Doch es reichte nicht.

„Hast du nicht doch noch was Dickeres?“, so waren wir mit der Perfektionierung des Equipments beschäftigt, als eine weibliche Stimme einschritt. „Jetzt lass es aber gut sein, das geht doch!“ Die Männer gehorchten dem klugen Rat der Frauen.

Manchmal nutzen wir mangels Leinwand auch ein Stück Raufasertapete. Kannst Du mir mal helfen, das Regal 30 cm nach links zu schieben? Es gab Wohnzimmerumbauten, die wurden später nie wieder rückgängig gemacht, weil man die Schrankwand schon immer weghaben wollte oder sich an dem für die Diashow abgehängten Gemälde schon lange satt gesehen hatte. Von manchen Paaren erzählt man sich, dass erst der Diaabend die Erlösung von dem Poster eines schmachtenden Liebespaar bei Sonnenuntergang bringen sollte und mit dem Abhang des Posters wenig später auch das eigentlich Paar nicht mehr schmachtete.

In Svens großem Wohnzimmer hatten nun alle einschließlich des Projektors und der Leinwand ihren Platz.
„Hat jetzt jeder was zu trinken? Uschi, Du hast noch nichts!“ Die Uschi gehörte zu den meist Unentschlossenen, die immer beim ersten Mal auf die Frage, was sie trinken wolle, „nein, danke. jetzt, noch nichts“, antwortete. Doch, jetzt, bevor die Verdunkelung begann, musste Uschi Farbe bekennen, denn während der Show war es schwierig Getränke zu beschaffen. „Also, was habt ihr denn zu bieten?…“

Lisa nutzte Uschis Zögern. „Dann lass mich vorher noch mal auf Toilette, solange sich Uschi noch nicht entschieden hat.“ Lisas schwache Blase war gruppenbekannt und natürlich fiel ihr ihre Blase genau jetzt ein, wo es eigentlich losgehen sollte. Sie saß schmächtig ganz hinten auf der Couch eingemauert zwischen Gerd und Thomas und der große Sessel davor, auf dem Klaus Platz genommen hatte, musste wieder vorgerückt werden, damit Lisa raus kam. Thomas hob leicht die Augenbrauen, weil Lisa genau immer in dem Moment, wo alle bereit waren, noch einen Einwand hatte. Schließlich war Lisa zurück und sogar Uschi hatte ihr Getränk, dann wurde endlich verdunkelt.

Wenn vorher ein wenig Anspannung in der Gruppe aufgekommen war, so glich das erste Dia einer Art Erlösung. Jetzt ging es los, man konnte sich zurücklehnen und den Abend genießen. „Wer übrigens heute vermummte Touren zwischen Eisbergen erwartet hat, hat es mit vermutlich mit Neufundland verwechselt“, begann Sven scherzhaft, als er auf einer Landkarte die geografische Lage Neuseelands zeigte.

„Warst du denn auch im Tongariromassiv, wo der Herr der Ringe gedreht wurde?“, meldete sich Klaus. Die Bescheidwisser durften natürlich nicht fehlen. „Natürlich habe ich auch den Tongariro-Trip gemacht, „fachsimpelte Sven mit. „Ihr seht nun Neuseeland in 3 Wochen und 9 Stationen.“ Dann ging es los.

Nach 36 Dias war Kassettenwechsel. Das war die maximale Anzahl von Dias, die in eine weißen Kassette passten, die in den Diaprojektor geschoben wurde. Waren alle 36 Aufnahmen angeschaut, kam die nächste Kassette dran.

Beim ersten Kassettenwechsel war Sven immer noch in Auckland, seinem Anfangsort und von den berühmten Nationalparks war diatechnisch noch nichts zu sehen. Svens Diasshows waren berüchtigt. Nach dem 5. Kassettenwechsel schaute ich normalerweise auf den Stapel der abgearbeiteten Kassetten und verglich diesen mit dem noch vor sich liegenden Stapel. Daraus konnte ich in etwa die Zeit abschätzen, wie lange es noch dauern würde, bis sämtliche Bäume Neuseelands bewundert waren. Doch Sven, der nie unter 20 Filmrollen von einer Reise nach Hause kehrte, kannte mich natürlich und wusste, wie genau ich die Länge der Vorführung berechnen würde. Deshalb hatte er diesmal alle Kästen im Wohnzimmerschrank versteckt und holte jeweils nur den nächsten Kasten aus dem Schrank heraus.

Doch auch diese Vorsichtsmaßnahme konnte ich umgehen. Ich hatte mir auf dem zweiten Dia den Routenplan eingeprägt und kombinierte, dass wenn man nach 7 Kassetten erst bei der dritten Station der Reise sei, dies unter Anwendung der Dreisatz-Rechnung bedeutete, dass man nicht unter 21 Kästen aus der Sache rauskommen würde. Vor 0.30 Uhr konnte das Ganze nicht zu Ende sein.

Nach dem 600. Dia und etwa 4 Stunden murmelten einige, dass sie ja am nächsten Tag früh raus müssten, andere schoben Essensunverträglichkeiten vor. Auch der Hinweis, dass der größte und schönste Nationalpark ja noch gar nicht gezeigt worden war, half nichts und die ersten flüchteten und zogen hastig ihre Mäntel an. Die feigeren Gäste nutzen heimtückisch den Moment, den andere geschaffen hatten, mit dem „Ich geh dann auch“, um das große Kino sozusagen durch den Seitenausgang zu beenden.

Als gute Freunde blieben wir natürlich bis zum Schluß. Die Dunkelheit des Raumes, den die Dias benötigten, hatte auch ihr Gutes. Man war recht unbeobachtet und nach 5 Stunden waren die meisten Augen geschlossen und blinzelten nur noch kurz auf. Ein schwächlich gehauchtes „Interessant“ unterbrach für ein kurzen Moment Svens Ausführungen, der immer enthusiastischer wurde, als es dem berühmten Fiordland-Nationalpark entgegen ging. Der Dramaturgie wegen, hatte er den schönsten Park bis zum Schluss aufgehoben. Klaus gab inzwischen kleine kurze Schnarchlaute von sich, die durch Lisas Stoß an seine Beine kurz aussetzten, um nach wenigen Minuten wieder von neuem zu beginnen. Maria hatte im Geiste ihre Präsentation in der nächsten Woche fertig und mir war eingefallen, dass bei meinem Auto seit einem Monat der TÜV überfällig war. Schließlich nahte das Ende und wir hatten nur noch einen Kasten vor uns. „Und mit diesem schönen Wasserfall endet meine Neuseelandreise.“ Sven war ein bisschen gemein zu uns. Denn eigentlich war noch ein Kasten übrig, das hatte ich zwar mühsam aber unter Anstrengung aus meinen Augenwinkeln verfolgt. Aber auch Sven war kurz vor 1 Uhr das schwindende Interesse nicht entgangen und er hatte die letzten 30 Dias einfach weggelassen. Gleichzeitig mit diesem Satz hatte er das Wohnzimmerlicht eingeschaltet und wir kamen uns vor wie in einem Flieger, wenn freundliche Stewardessen nach der Nacht morgens die Fensterluken hochschieben und gleich das Frühstück zu klappern beginnt.

Alle rieben sich die Augen. „Oh schon vorbei!“, meinte Heike nicht ohne Sarkasmus. Wir griffen uns noch ein paar Chips und dann die Mäntel. Thomas meinte nur, er sei kürzlich in Namibia gewesen. Er machte ein kurze Pause, um dann zu ergänzen, dass er aber keine Dias gemacht habe. Die Erleichterung der letzten Gäste war offensichtlich.

Die Diaabende sind Vergangenheit. GEO, BBC und TerraX zeigen professionell jeden Winkel Neuseelands in 10 Folgen. Kein Hobbyphotograf kommt dagegen an und schließlich gibt es auch keine Dias mehr. Das Thema „Wir waren in Neuseeland“ ist auf jeder Party in 2 Minuten abgehandelt: Wir haben die Bilder ins Netz gestellt. Wer möchte, kann sich von mir den Link schicken lassen. Komm, lass uns chillen.