Individualisierung -
Die Betonung der Menschen auf Selbstbestimmung und Unterscheidung


Die Großfamilie und die dörfliche Gemeinschaft boten über viele Jahrhunderte den Schutz zum Überleben. Die Jungen sorgten für Alten, die Frauen versorgten Haus und Kinder, die Männer gingen zur Erwerbsarbeit oder aufs Feld. Diese Arbeitsteilung half die Aufgaben des täglichen Lebens bewältigen zu können. Sie war Rentenversicherung, Broterwerb und Lebensschule in einem Mikrokosmos.


Doch mit zunehmenden Wohlstand und hochgradiger Arbeitsteilung gelingt es, aus einem in weiten Teilen fremdbestimmten Leben in ein immer mehr selbst bestimmtes Leben überzugehen. Die sozialen Verpflichtungen der Großfamilie lassen sich “auslagern”. Eine Dienstleistungsindustrie übernimmt die Aufgaben von früher.


Es gibt Altenheime, die alte Menschen pflegen, sodass sie nicht mehr auf das Leben in der Großfamilie angewiesen sind. Die Rentenversicherung schafft ein Auskommen im Alter, ohne dass man sein Gnadenbrot auf dem Hof erhält. Kinder werden in Krabbelgruppen, Kindergärten und Ganztagsschulen betreut. Damit wird es Frauen ermöglicht zur Erwerbsarbeit zu greifen.

Die funktionalen Aufgaben der einstigen Großfamilie sind vollständig institutionalisiert. Aber auch die Kleinfamilie ist bedroht. Jede dritte Ehe wird geschieden und die Zahl der allein lebenden Menschen nimmt rapide zu. Bereits jeder fünfte lebt heute in Deutschland allein. In Großstädten sind etwa 40% aller Haushalte Single-Haushalte. Damit wird klar, dass die Verpflichtungen Einzelner gegenüber einer Familie oder Gemeinschaft immer weiter abnehmen, was nur mit entsprechendem Wohlstand möglich ist.


Mit diesem größer werdenden Wohlstand entsteht etwas, was früher nur den obersten Schichten vorbehalten war: Freie Zeit. Die freie verbleibende Zeit nutzen wir, um die eigenen Ziele, Sehnsüchte und Wünsche zu erfüllen, um das eigene Wesen völlig zur Entfaltung zu bringen, kurz um uns selbst zu verwirklichen.

Das Szenario zur Individualiserung: Individualisierte Lebensstile


Im Jahre 2050 haben viele Menschen freie Zeit und sind auf der Sinnsuche. In der Bedürfnispyramide sind die unteren Stufen erfüllt. Das schafft Raum für die Fragen: Wer bin ich wirklich, wie kann ich meine Fähigkeiten erweitern?


Nicht alle Menschen wissen, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollen. Werbung schafft Bedürfnisse, die vorher gar keine Bedürfnisse waren. Es entstehen Erlebnisgesellschaften, Vergnügungsparks und virtuelle Welten. Wir lernen Fähigkeiten, die wir gar nicht brauchen. Wir regen uns über Dinge auf, die gar keine Aufregung wert sind. In einer entspannten Welt braucht man künstliche Nachrichten, die Aufregung erzeugen, weil es sonst zu langweilig ist.


Wer außergewöhnlich ist, der hat die Aufmerksamkeit der Welt, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Menschen können dreidimensional drucken, in Heimfabriken kann man sich einfache Geräte und Gegenstände selbst erschaffen. Natürlich kann man diese auch als Fertigprodukt kaufen, doch die Herausforderung der Menschen liegt in der Unterscheidung. Man möchte nicht das gleiche haben wie der Nachbar. Autos können in einem noch nie gekannten Grad individualisiert werden. In den Extras liegt der Mehrwert. In der Welt der individualisierten Lebensstile spielt Mobilität des einzelnen eine große Rolle. Wer es sich leisten kann, nimmt den Helikopter, das Fliegen ist günstig geworden und nicht mehr einer reichen Oberschicht vorbehalten, die es sich leisten kann.


Nicht nur physische Mobilität ist wichtig, auch die virtuelle Mobilität hat stark zugenommen. Für Projektarbeiten werden Menschen auf nie geahnte Weise vernetzt, sodass sie zusammenarbeiten als wären sie auch physisch am selben Ort. (Man beachte, dass ich dies vor Beginn der Corona-Pandemie geschrieben habe.) Dauerhafte Bindungen sind selten. Es werden noch mehr Menschen alleine leben, aber dennoch werden sie mit mehr Menschen in Kontakt stehen als heute. Menschen sind permanent erreichbar, spontane Verabredungen sind einfach möglich.


Unsere mobilen Geräte, die wir permanent mit uns führen und unser Profil enthalten, erkennen schnell den Grad der Übereinstimmung unseres Profils mit einer anderen Person auf der Straße, noch bevor wir den anderen überhaupt gesehen haben. Wir bekommen Vorschläge uns mit anderen Menschen, die wir noch nie gekannt haben, auszutauschen, um uns weiter zu entwickeln. Das alles muss sicher sein vor Manipulationen, denn es steht unter höchster Strafe, sein Profil oder auch Kommunikationswege ins Internet zu manipulieren. Wir sind neugierig aufeinander und doch schnell gelangweilt, weil fast alles schon bekannt ist.